Es geht ein Gespenst um in den Köpfen der Menschen. Das Gespenst der Diktatur des Sozialismus. Alle Mächte des Landes haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, die Zeitungen und die FDP, die Wirtschaft und die ehemals soziale SPD, der Wirtschaftsminister und Vorstandsvorsitzende.
Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als sozialistisch verschrien worden wäre, wo die Regierungspartei, die der linken Opposition den brandmarkenden Vorwurf des Sozialismus nicht zurückgeschleudert hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor.
Der Sozialismus ist nach wie vor der Albtraum der politischen Mächte und der Medien, der Niesnutzer des Kapitalismus und der Menschen. Es ist hohe Zeit, daß die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes verstehen, was die Grundlage, die Zwecke eines demokratischen Sozialismus sind, und dem Märchen vom Gespenst des Sozialismus ein Ende zu setzen.
Zugegeben, der Text ist geklaut und abgewandelt. Und viele von euch, verehrte Leser:innen, werden das Original des kommunistischen Manifests kennen. Aber die einleitenden Worte von Marx und Engels erschienen mir passend. Denn so wie seinerzeit der Kommunismus der größte vorstellbare Schrecken war, scheint dies in unserer Zeit der Sozialismus zu sein. In den Köpfen der Menschen ist Sozialismus absolut gleichwertig zu „Diktatur“, „Unfreiheit“ und „Unterdrückung“. Stimmt das? Ist das wirklich das Selbe? Schauen wir mal.
Was ist eigentlich Sozialismus?
Tatsächlich gibt es für diesen Begriff mehrere Definitionen, die sich aus den unterschiedlichen Ausprägungen des Sozialismus ergeben – oder aus dem, was dafür gehalten wurde. Die für mich treffendste ist die der Bundeszentrale für politische Bildung:
„Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte „Freiheit“ und „Gleichheit“ verwirklicht werden.„
Oh, warte! „Freiheit“? Aber Sozialismus heißt doch „Diktatur“! Wie kann jemand in einer Diktatur frei sein?
Solltest Du Dir jetzt auch diese Frage stellen, bist Du ganz dicht dran, es zu verstehen.
Sozialismus in seiner ursprünglichen Idee hat rein gar nichts mit Unterdrückung, Unfreiheit oder Repression zu tun. Der Sozialismus ist keine Erfindung von Marx oder Engels. Und erst recht nicht eine Ausgeburt der ehemaligen DDR. Trotzdem schwirrt in den Köpfen der Menschen der Irrglaube umher, dass ein sozialistischer Staat auf jeden Fall so aussehen muss wie die DDR zu ihren schlimmsten Zeiten. Der privatisierten Medienlandschaft sei dank.
Sozialismus hat seine Wurzeln u.a. in einer Zeit, als die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen einen unrühmlichen Höhepunkt erlebte: die Zeit der Französischen Revolution. Die Philosophie des Sozialismus ist dem aufklärerischen Denken entsprungen. Anders ausgedrückt: Sozialismus ist eine logische Folge der Forderung nach Freiheit des Einzelnen.
Was heißt das?
In der Philosophie des Sozialismus ist das Individuum, also der einzelne Mensch, frei. Diese Freiheit kann allerdings nicht realisiert werden, wenn es eine Abhängigkeit gibt. Diese Abhängigkeit kann von einer herrschenden Klasse ausgehen. Sie kann jedoch auch – und das war die Kritik von Marx und Engels – vom Kapital ausgehen.
Nun sollte Dir spätestens klar werden: Die DDR hatte niemals den Hauch einer Chance, den Sozialismus tatsächlich umzusetzen. Denn die DDR war eine Diktatur. Und daran gibt es auch nichts zu diskutieren.
Es gab eine herrschende Klasse, die mit Überwachung, Unterdrückung, Drohung und Gewalt regierte. Der einzelne konnte also keineswegs frei sein. In einer Diktatur kann Sozialismus nicht existieren.
Um es klar auszudrücken: Weder die DDR noch irgendein anderes Land des ehemaligen sogenannten Ostblocks (inklusive der Sowjetunion) war ein wirklich sozialistischer Staat. Es waren Diktaturen, geleitet und gelenkt von Moskaus Gnaden und gerechtfertigt mit einer Bemerkung von Karl Marx („Diktatur des Proletariats“). Sozialismus? Fehlanzeige!
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
Der Wahlspruch der französischen Revolution fasst im Grunde sehr genau zusammen, worum es in einer wirklich sozialistischen Gesellschaft geht.
1. Alle Menschen sind frei.
Sie erfahren keinerlei Abhängigkeiten von einer herrschenden Klasse, einem unterdrückerischen Staatsapparat oder eben vom Kapital. Die Freiheit jedes Menschen kann also nur dann verwirklicht werden, wenn auch jeder Mensch frei von der Notwendigkeit ist, ständig der Erhaltung des Kapitals (= seiner Lebensgrundlage) hinterher zu laufen. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet das: ein großer Schritt Richtung individueller Freiheit ist das bedingungslose Grundeinkommen.
2. Alle Menschen sind gleich.
Hört man genauer hin, ist dieses Prinzip auch für Menschen aus wirtschaftlich schwachen Gruppen anscheinend der absolute Horror. „Diese Gleichmacherei wäre ja fürchterlich!“. Ein rhetorisches Eigentor.
Alle Menschen SIND von Geburt an gleich(wertig). Das bedeutet, sie sind mit gleichen Rechten und Privilegien ausgestattet. Diese Rechte sind nicht von der Herkunft, der Nationalität, der Hautfarbe, der sexuellen Identität oder Orientierung oder sonst einem Merkmal abhängig. Die einzige Bedingung, um in den Genuss dieser Rechte und Privilegien zu kommen, ist die Eigenschaft, ein Mensch zu sein.
3. Alle Menschen sollen solidarisch sein.
Tatsächlich eher absurde Wunschvorstellung. Denn niemand kann wirklich immer mit jedem Menschen solidarisch sein. Oder möchtest Du Dich mit einem Kerl solidarisch zeigen, der aus Eifersucht seine Frau um die Ecke gebracht hat? Eher nicht.
Aber alle Menschen sollten zumindest im Geiste der Brüderlichkeit miteinander leben. Jeder Mensch ist auf die ein oder andere Weise für einen anderen Menschen verantwortlich. Und jede/r von uns hat die Pflicht, andere Menschen zu respektieren, zu schützen und deren Wohlergehen zu wahren.
Versteht mich nicht falsch. Ich rede hier nicht von einer religiös-himmlischen Botschaft der Nächstenliebe. Idioten wird es geben, solange es die Menschheit gibt. Und ein ausgemachter Schwachkopf zu sein war noch nie von der Herkunft abhängig. Deppen gibt es in allen Ecken der Welt. Ich rede vom gesunden Menschenverstand.
Warum sollte ein Mensch mit dunkler Hautfarbe mehr oder weniger wert sein als ein Weißer? Was macht einen Deutschen besser als einen Araber, Türken oder Kenianer? Wenn man sich der Schwächen der menschlichen Natur bewusst wird („Deppen gibt’s an jeder Ecke“), bleibt nicht mehr viel übrig, was hier als Argument angeführt werden könnte.
Die einzige Variable, die uns von einer Brüderlichkeit bzw. Solidarität trennt, ist unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Wenn es jeden Tag darum geht, Geld und noch mehr Geld zu verdienen (oder das notwendige, um eine Scheibe Brot auf den Teller zu bekommen), wird es Menschen geben, die dem Nächsten nicht den Dreck unter Fingernägeln gönnen. Stellen wir als Gesellschaft jedoch sicher, dass alle genug zum Leben haben, lässt sich dieses Problem vielleicht nicht lösen, aber sicher entschärfen.
Keine Abhängigkeit … Keine Regierung?
Egal welches (soziale) Medium Du heute bemühst, Du wirst immer wieder mit den gleichen Kommentaren überschüttet. Die Regierung ist an allem Schuld. Die da oben beuten uns aus. Wir sind alle vollkommen machtlos und abhängig und die machen ohnehin nur, was sie wollen und unterdrücken uns alle. Im Zuge der Corona-Pandemie fielen sogar Begriffe wie „Diktatur“.
Das alles zeigt leider nur eines: Die inhaltsleeren Blödeleien einer BILD-Zeitung scheinen mehr Erfolg zu haben, als man bisher dachte. Denn wer auch immer solche platten Floskeln verbreitet, verdeutlicht damit nur seine Ahnungslosigkeit in Bezug auf das Wesen der Demokratie.
Denkt man auch nur eine Sekunde nach, kommt einem schnell die Erkenntnis, dass wir nicht bei jeder Kleinigkeit 80 Millionen Menschen nach ihrer werten Meinung fragen können. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes müssen also aus ihrer Mitte Menschen auswählen, die für sie sprechen. Das war bereits zu Zeiten vor der französischen Revolution so. Der Unterschied zu heute: Der „dritte Stand“ sprach für über 90% der Bevölkerung, hatte tatsächlich aber rein gar nichts zu melden. Der Adel und der Klerus trafen die Entscheidungen. Was können wir froh sein, dass wir heute weder Kaiser noch Kirche gehorchen müssen.
Jetzt folgt der humorvolle Teil.
Damit die Menschen gewisse Personen aus ihrer Mitte bestimmen können, halten wir regelmäßig Wahlen ab. Jeder, der gerne ausgewählt werden möchte, kann sich zur Wahl stellen. Dann bekommt diese Person entweder genug stimmen oder eben auch nicht.
Aber: JEDE/R kennt VORHER die Personen, die sich zur Wahl stellen. JEDE/R kann sich VORHER informieren, wofür eine Person steht, welche Ansichten diese Person vertritt, was diese Person bisher getan hat und plant, bei welcher Partei diese Person Mitglied ist, wofür diese Partei steht, was diese Partei in der Vergangenheit getan hat, was diese Partei in der Zukunft plant. Das ist alles ÖFFENTLICH. Man kann sogar DIREKT mit diesen Personen sprechen. Man kann sich sogar informieren, wie diese Person bei Abstimmungen im Parlament gestimmt hat.
Ergo: JEDE/R weiß VOR der Stimmabgabe bei entsprechendem Informationswillen, welche Folgen das eigene Kreuzchen hat oder zumindest haben könnte.
Und TROTZDEM ist nach der Wahl umgehend das Gemecker und Geschrei groß, weil „die da oben“ wieder nur Mist machen. Niemand kommt im Zweifel auf die Idee zu sagen: „Die können den Mist machen, weil ich sie gewählt habe.“ Die Defizite im Wissen um die Demokratie und die Folgen des eigenen Handelns sind also größer, als man befürchten könnte.
Und trotzdem können wir es uns auch in einer wirklich sozialistischen Gesellschaft nicht leisten, ohne eine Regierung dazustehen. Denn die Absicht ist Sozialismus, nicht Anarchie. Anders ausgedrückt: jemand muss den Laden verwalten und am Laufen halten. Es muss Regelungen geben, wie wir zusammen leben wollen und jemand muss diese Regelungen aufstellen und deren Einhaltung sicherstellen. Auch in einer Gesellschaft der individuellen Freiheit muss es eine demokratisch legitimierte Regierung geben.
Was ohne Frage ist: sie muss anders funktionieren. Denn solange in einem Parlament auch nur ein einziger Vertreter sitzt, der dies nur aus persönlichen Gewinnerwartungen tut, läuft etwas falsch. Darum darf der Beruf des Politikers nicht anders behandelt werden als jeder andere. Das betrifft vor allem die Verdienste NACH der aktiven Zeit. Auch bin ich einer Begrenzung der „Dienstzeit“ nicht abgeneigt. Zwei oder drei Legislaturperioden und dann ist Schluss. Niemand muss 20 oder 25 Jahre in einem Parlament absitzen.
Aber ich verteidige dennoch die hohen Diäten, die jeder Politiker für seine Tätigkeit erhält. Sieht man einmal davon ab, dass von diesem Geld Ausstattung, Mitarbeiter und Steuern zu zahlen sind, sollte doch jeder Politiker zumindest so viel Geld erhalten, dass er möglichst von Offerten Dritter Abstand nimmt. Anders gesagt: Gesetze sollten gemacht werden, nicht von Dritten erkauft.
Und was bitte hat das jetzt alles mit Sozialismus zu tun?
Demokratie + Sozialismus = Demokratischer Sozialismus
Für jeden einigermaßen wachen BILD-Leser muss sich das jetzt lesen wie der Inbegriff des Widerspruchs.
„Was? Demokratie UND Sozialismus? Diese links-grün versifften Spinner! Das soll zusammenpassen?“
Wenn Du Dir jetzt genau diese (oder eine ähnliche) Frage stellst, hoffe ich, Du hast niemals SPD gewählt. Denn in der Einleitung auf Seite 5 des im Jahre 2007 verabschiedeten Hamburger Programms findet sich folgender Satz:
„Den Menschen verpflichtet, in der stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus, mit Sinn für Realität und mit Tatkraft stellt sich die deutsche Sozialdemokratie in der Welt des 21. Jahrhunderts ihren Aufgaben.“
Jetzt ist Dir vor Schreck die BILD aus der Hand gefallen, oder? Vermutlich auch, weil Du selbst noch nie einen Blick in ein Parteiprogramm geworfen hast. Selbst AfD-Wähler sollen das ja nur höchst selten tun, weil viele des Lesens gar nicht mächtig sind. Sonst würden sie ja nicht AfD wählen. Sei es drum.
Auch die SPD bezieht sich in ihrem Programm auf diese „ach so absurde“ Kombination aus Demokratie und Sozialismus. Anscheinend hat man auch da drüben endlich (wieder) begriffen, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist.
Jetzt bin ich natürlich aufgrund anderer Mängel im Gedankengut kein wirklicher Freund der SPD, wenngleich ich eine politische Zusammenarbeit – anders als manche meiner Parteigenossen – niemals kategorisch ausschließen würde. Doch auch DIE LINKE bezieht sich in ihrer Politik auf den demokratischen Sozialismus. Es muss also was dran sein an dieser Gesellschaftsform, wenn sich gleich zwei Parteien darauf berufen.
Ich gebe zu, nicht alle Mitglieder*innen meiner Partei tun das. Manche sind einfach knallharte Kommunisten, Leninisten oder sonstige Isten. Und mich würde es überhaupt nicht wundern, wenn sich darunter auch solche finden, die durchaus eine „Diktatur des Proletariats“ herbeisehnen. Ich jedoch bin überzeugter Anhänger eines demokratischen Sozialismus, der für mich die Vollendung einer wirklichen Demokratie in einer sozialen und soldarischen Gesellschaft ist.